SHRIMP goes Bildungswissenschaften: Interview mit Dr. Christian Herfter

SHRIMP wird seit 2015 an der Universität Leipzig am Institut für Amerikanistik als Lehr-Lern-Experiment erprobt und evaluiert. Doch der Reader eignet sich auch für den Einsatz in anderen Gebieten der textbasierten Geisteswissenschaften – das dachte sich auch Dr. Christian Herfter vom Institut für Bildungswissenschaften der Uni Leipzig. Im Rahmen eines LiT Shortcut, eines Kurzworkshops für Lehrende an der Uni Leipzig, erfuhr er von SHRIMP und sah sofort das Potenzial für den eigenen Fachbereich. Gesagt, getan: Ab nächstem Jahr soll SHRIMP auch an der Professur für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik des Sekundarbereichs eingesetzt werden. Wo, wie und wann, erklärt Christian Herfter im Interview.

Kannst Du noch einmal kurz das Modul beschreiben, in das Ihr SHRIMP integrieren wollt?

Das einführende bildungswissenschaftliche Modul besteht aus einer Vorlesung und zwei Seminaren, in der allgemeine Theorien und empirische Ergebnisse zur Schul- und Unterrichtsforschung vorgestellt und besprochen werden. Es ist eher ein orientierendes Modul, d.h. wir vertiefen nicht wenige Ideen, sondern behandeln viele verschiedene Theorien und Perspektiven. Das ist eine besondere Herausforderung, weil die Studierenden es schaffen müssen, für sich die Vernetzungen zwischen den einzelnen Themen herzustellen.

Habt Ihr bislang digitale Tools für die Studierenden im Modul bereitgestellt?

Bislang haben digitale Tools in der Lehre bei uns kaum eine Rolle gespielt. Wir haben zwar Moodle als Dateiablage und Möglichkeit für die Kontaktaufnahme genutzt, doch die Studierenden haben darin nicht wirklich einen Mehrwert gesehen. Zumindest innerhalb der Möglichkeiten die Moodle bietet, da es nicht so richtig ins Lehrkonzept integriert ist. Wir haben literaturbasierte Seminare, und diese Literatur muss gelesen und in den Veranstaltungen diskutiert und präsentiert werden. Da konnte man bisher zwar schon mit dem Smartboard Dinge arrangieren oder das Notebook benutzen, um Gruppenarbeiten zu visualisieren. Aber im Prinzip sehe ich das nicht wirklich als „digitale Erweiterung“, da das Sachen sind, die man auch analog machen könnte.

Wo konkret seht Ihr innerhalb des Moduls Anknüpfungspunkte für SHRIMP?

Die Vorlesung spielt hier für uns zunächst eine untergeordnete Rolle, wir planen aber punktuell Vorlesungsinhalte zu integrieren. Für die beiden Seminare gibt es einen „Textkorpus“. Doch die Seminare bestehen nicht nur aus dem Lesen der Texte. Ein weiterer Schwerpunkt besteht darin, dass die Studierenden mithilfe der Texte Fallbeispiele interpretieren sollen, also beschriebene Situationen aus Schule und Unterricht. SHRIMP soll quasi die komplette Textbasis ersetzen, d.h. alles, was gelesen wird, soll in SHRIMP sein. Alle Texte sollen so aufbereitet sein, dass sie die Verlinkungen und Vernetzungen zwischen den Inhalten sichtbar machen. D.h. wir „zerstückeln“ die Texte nicht nur – das ist aber auch ein wichtiger Punkt – sondern wollen den Studierenden die ganzen Querverbindungen aufzeigen, was eine Aufgabe ist, die sie bisher selbst leisten mussten. Und SHRIMP bietet diese Möglichkeit an.

Ein weiterer relevanter Punkt ist für uns die soziale Komponente von SHRIMP. Wir diskutieren zwar im Seminar schon jetzt Fragen, doch oft bringen sich in den Besprechungen nur immer einzelne, wenige Personen ein – denn nicht alle sind gewillt, vor einer großen Gruppe zu sprechen und z.B. das eigene Missverstehen zu artikulieren. Wir hoffen, dass mit der Möglichkeit in SHRIMP, öffentlich sichtbare Kommentare zu verfassen, eine Diskussion schon während des Leseprozesses angeregt wird, die man dann im Seminar leicht aufgreifen kann. Wir hoffen dadurch, dass man sich nicht nur an einzelnen Fragen abarbeitet, die vielleicht nur die eine Person betreffen, die sich gerade gemeldet hat, sondern als Lehrkraft ein besseres Gefühl bekommt, worüber die Mehrheit eigentlich sprechen will.

Welche weiteren Vorteile bietet Eurer Meinung nach SHRIMP für die Lehrenden bzw. Studierenden der Bildungswissenschaften?

Für die Studierenden gibt es noch einen weiteren wesentlichen Aspekt, nämlich den, dass der Umgang mit digitalen Lernmedien ja auch für den späteren Lehrer*innen-Beruf sehr wichtig ist. Wir haben auch eine eigene Lerneinheit dafür eingeplant. Zum einen wollen wir mit einem Erklärvideo in die Nutzung von SHRIMP einführen. Zum anderen wollen wir in der Mitte des Semesters eine Reflexionseinheit einplanen, in der die Studierenden ihre Erfahrungen besprechen können – begleitet mit Lernkarten, die auf den Umgang mit digitalen Medien im Schulunterricht abzielen. Das Lernsetting im Seminar ist etwas, das man ja durchaus auf den späteren Schulunterricht übertragen kann, man spricht hier auch von einem „Pädagogischen Doppeldecker“.

Auch wenn die höhere Sichtbarkeit des „Stimmungsbildes“ im Seminar von enormem Vorteil ist, bedeutet die Einführung von SHRIMP für die Lehrenden erst einmal mehr Arbeit. Wir dachten bei der Planung zunächst an die Vorteile und die Möglichkeiten für die Kompetenzerweiterung der Studierenden. Ich glaube, dass die Lehre aber insgesamt für alle besser wird, auch wenn vielleicht die Umstellung für die Lehrenden zunächst mehr Aufwand verursacht. Ich hoffe, dass uns die Nutzung von SHRIMP mehr Freiräume gibt, um uns auf die Fallarbeit im Seminar zu konzentrieren. Denn im Moment finde ich, dass man zu viel Zeit für die Textarbeit aufbringen muss, und die Fallbeispiele dadurch nicht in einer Intensität besprochen werden können, wie ich es mir wünschen würde.

Was stellt Ihr Euch unter einem optimalen Lehr-Lern-Setting vor?

Optimal ist, wenn die Studierenden die Texte gut vorbereitet haben und sich darüber verständigt haben, auf welche Herausforderungen sie beim Lesen gestoßen sind – so kann man direkt mit einer gewissen Grundbasis starten. Man muss sich als Lehrende/r dann überlegen, wie viel Zeit man für welche Teile des Seminars einplant, mithilfe der Fragen und Hinweise der Studierenden. Im Seminar kann man dann direkt mit diesen Fragen starten und sozusagen davon ausgehen, dass das Unkommentierte verstanden wurde. So hat man einen Großteil des Seminars Zeit, miteinander zu diskutieren und das Fallbeispiel entlang des Textes zu besprechen, auch vor dem Hintergrund aktueller bildungspolitischer Herausforderungen. Mit SHRIMP – so hoffen wir – geht das einfacher. Das Tool bietet auch sehr viel Flexibilität bei der Seminargestaltung, da die Lehrenden die vernetzten Inhalte ebenfalls besser und schneller nutzen und spontan entscheiden können, dass sich die Studierenden z.B. bestimmte Lernkarten noch einmal ansehen sollen. Es ist einfach klarer, was wie zusammenhängt.

Wann plant Ihr einen ersten Einsatz von SHRIMP?

Wir wollen die Plattform ab Sommersemester 2020 einsetzen, heißt ab April, und testen diese zunächst mit unserer „kleinen“ Kohorte, das sind rund 400 Studierende. Und dann ist ab Oktober 2020 der Einsatz für 750 Studierende geplant.

Welchen Herausforderungen musstet Ihr Euch stellen, als Ihr Eure Texte als Social Hypertexte aufbereitet habt?

Wenn man einen Reader nimmt und sich auf Texte verständigt hat, sind viele Entscheidungen schon getroffen: Welche Texte man liest, und wie der Text aufgebaut ist, ist durch die Autorin oder den Autor schon vorentschieden. Wenn man dieses Medium Text dann aufbricht, müssen viele Entscheidungen neu getroffen werden. Man muss entscheiden, welchen Text oder welche Textteile man mit „reinnimmt“, wie man die Lernkarte nennt, welche Abfolge Sinn macht, welche Verlinkungen man thematisiert… Wir haben ein riesiges Forum mit offenen Fragen, die wir diskutieren und wo vorübergehende Entscheidungen festgehalten werden, die wir dann in einem Review-Prozess noch einmal reflektieren.

Die Entscheidungen, die beim Aufbereiten eines Textes getroffen werden müssen, bieten aber auch sehr viele Freiheiten – das ist ein entscheidender Vorteil. Wenn z.B. mit bestimmten Textpassagen in der Vergangenheit nie etwas gemacht wurde, dann kann man diese etwa auch weglassen bzw. nur als Link bereitstellen.

Eine andere größere Herausforderung ist, dass man viel langfristiger planen muss. Für Lehrende, die gerne von Woche zu Woche planen, bedeutet das eine größere Umstellung. Klar bleiben die Lehrenden einigermaßen flexibel, aber man muss sich schon vorher klarmachen, wie in etwa der Weg aussieht, den man in einem Semester mit den Studierenden „gehen“ will.

Denkst Du, dass digitalisierte Lehre generell langfristiger geplant werden muss und so zu mehr Struktur führen wird?

Es gibt natürlich viel, das vorher bedacht werden muss, aber nicht, weil es plötzlich neu ist, sondern weil vieles schlicht sichtbar wird. Durch die Lehrpersonen müssen Entscheidungen getroffen werden, Entscheidungen, die vorher andere für einen getroffen haben. Ich glaube, das bedeutet zunächst erst einmal weniger Struktur. Zum Beispiel bzgl. der Planung der Inhalte, da man sich zunächst in einem Netzwerk an Themen und Lernkarten zurechtfinden muss. Wenn man dann seinen Weg gefunden hat, dann, klar, kommt die Struktur wieder. Ein weiterer Fakt ist auch, dass ich jetzt als Lehrende/r nicht mehr mit meinem persönlichen Print-Text ins Seminar gehe, sondern mit meinem Notebook in der Klasse mit SHRIMP arbeite und direkt sehe, wo Studierende welche Fragen hatten. Das meine ich auch mit Sichtbarkeit. Und mit diesen Fragen muss ich dann eben auch ganz kurzfristig planen. D.h. ich muss zum einen Verbindlichkeiten herstellen, z.B. was den zu lesenden Text betrifft, als auch spontan auf Veränderungen reagieren. Das verändert viel.

Wie wollt Ihr den Einsatz von SHRIMP evaluieren?

Es wird noch eine Projektphase geben, in der wir intensiver über das Vorgehen nachdenken wollen. Doch ein paar Entscheidungen haben wir schon getroffen. Wir wollen im Ergänzungsbereich des Lehramtsstudiums für die Studierenden der höheren Semester ein Seminar anbieten, innerhalb dessen Sie den Einsatz von SHRIMP begleiten. Sie sollen anhand dieses Forschungsgegenstands hier verschiedene Forschungsmethoden erlernen. Mit den Studierenden dieses Ergänzungsseminars wollen wir auch gemeinsam ein Evaluationskonzept ausarbeiten. Wir wollen auf jeden Fall, dass die Evaluation „dialogisch“ passiert. Wir wollen auf keinen Fall erst am Ende des Semesters erfahren, was los ist.

Vielen Dank für das Interview, wir freuen uns auf die gemeinsame Arbeit!

Für alle, die das Interview nachhören wollen, gibt es die Audio-Version auf Soundcloud.